Lebensgeschichtlichen Auswirkungen des Staatssozialismus
Polnisch-deutsches Forschungsprojekt über die lebensgeschichtlichen Auswirkungen des Staatssozialismus
Fritz Schütze, Ulrike Nagel, Anja Schröder-Wildhagen und Carsten Detka
English language short version:
Title of the research project: “The People Republic of Poland and the German Democratic Republic within the Biographical Experience and Working-Through of the After-War Generation from 1945 to 1955. A Sociological Comparison on the Base of Biography Analysis”. Short English description: The project focuses the life-historical experiences and the collective-historical perspectives of the post-war generation (born between 1945 and 1955) in Poland and East Germany. This is the generation, whose life was decisively shaped by the societal formation of “state socialism” or “real socialisms” for more than thirty or even more than forty years. The empirical base of the research is a text corpus of forty autobiographical-narrative interviews both in Poland and East Germany with non-prominent “everyday” members of the post-war generation. Put in basic-theoretical terms, our research started with the following assumption that might be empirically tested and theoretically differentiated during the course of the project: The long-lasting collective-historical epoch of state or real socialism in Poland and East Germany shaped in a decisive way the complex relationship between the biographical identity unfolding of individual inhabitants and the “surrounding” collective frames and entities (as the communist party, the state and their organizations are) with their expectations and controlling power. The relationship between biographical identity formation and collective frames in the two state socialist or real socialist societies was quite different from the relationship between biographical identity and collective frames in Western democratic-capitalistic societies, although this was not clear for most of the inhabitants of both state/real socialist societies - except for dissidents. - The project harnesses the knowledge-generating power of permanent transnational comparison by means of bi-national research workshops (including advanced students). A part of the interviews and the results of their analysis shall be reworked and prepared for history exhibitions, popular workshops and lay-addressed publications. Through these activities, the communicative memory of the long-lasting state/real-socialist epoch should be secured. In addition, the public dissemination of the project data and results should serve both national cultures of historical recollection. But even more important is that, in the way of transnational researching together, the European dimension of the biographical experiences of state/real socialism and its collective-historical event constellations, i.e. their “shaping power” for understanding the European mental space
German contact: Anja Schroeder-Wildhagen [];Polish contact: Katarzyna Waniek [k.m.waniek@googlemail.com] and Piotr Filipkowski []
Das polnisch-deutsche Forschungsprojekt „Die Volksrepublik Polen und die Deutsche Demokratische Republik in der biographischen Erfahrung und Durcharbeitung der Nachkriegsgeneration von 1945 bis 1955. Ein biographieanalytisch-soziologischer Vergleich“ thematisiert die Auswirkungen der staatssozialistischen Gesellschaftsformation auf die Lebensführung und die biographische Entwicklung der Menschen in Polen und in Ostdeutschland/der DDR. Es wird zu gut drei Vierteln von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung (DPWS) in Frankfurt/Oder und zu knapp einem Viertel von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gefördert. Konsortialführerin ist Prof. Kaja Kazmierska, Lehrstuhl für Kultursoziologie der Universität Lodz in Zusammenarbeit mit Dr. Katarzyna Waniek und Mgr. Sebastian Zaborowski. Weiterhin sind beteiligt: Dr. Piotr Filipkowski und Mgr. mult. Maciek Melon, Fundacja Osrodka KARTA in Warschau sowie Prof. Ulrike Nagel, Dr. Anja Schröder-Wildhagen, Prof. Fritz Schütze vom Soziologischen Institut der Universität Magdeburg und Prof. Detlef Garz, Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Mainz, als Leiter der Studiengruppe „Rekonstruktive Sozialforschung“ am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst, mit der das DPWS-Forschungsprojekt im Datensammlungs-und Analyseprozess zusammenarbeitet. Laufzeit des DPWS-Forschungsprojektes ist 16. April 2012 bis 14. April 2014.
Das trotz der außerordentlich großzügigen Förderhaltung der beiden Zuwendungsgeber aus zwingenden äußeren Gründen finanziell recht klein-dimensionierte Projekt widmet sich den lebensgeschichtlichen Erfahrungen und den kollektiv-historischen Sichtweisen der Nachkriegsgeneration (geb. ungefähr 1945 bis 1955) in der Gesellschaftsformation des Staatsozialismus in der VR Polen und der DDR. Empirische Grundlage sind je vierzig autobiographisch-narrative Interviews in Polen und Ostdeutschland mit nicht-prominenten „Alltags“-Menschen dieser Generation: mit (1) Arbeitern (einschließlich kleinen unselbständigen Handwerkern und Dienstleistern), (2) Bauern, (3) damals selbständigen Geschäftsleuten und Handwerkern, (4) professionellen Freiberuflern und Wissenschaftlern, (5) Lehr- und Erziehungskräften, (6) Vertretern der damaligen Lokalverwaltungen, (7) kirchlich Gebundenen und Amtsträgern sowie mit (8) Vertretern der Opposition und der Gegenkultur, die in lokalen Gemeinschaften und Diskursarenen tätig waren. Grundlagentheoretisch geht das Forschungsprojekt von der empirisch zu überprüfenden und zu differenzierenden Annahme aus, dass die lange kollektiv-historische Epoche des Staatssozialismus in Polen und Ostdeutschland in die Beziehung zwischen biographischer Identitätsentwicklung und „umgebenden“ kollektiven Gebilden (wie dem Staat und seinen Organisationen) besonders tiefgehend-verändernd eingegriffen hat. Im Projektablauf kommt der fortlaufende transnationale Vergleich in gemeinsamen bi-nationalen Forschungswerkstätten (mit fortgeschrittenen Studierenden) zum Zuge. Ein Teil der Interviews und deren Ergebnisse sollen für Geschichts-Ausstellungen, populäre Geschichtswerkstätten und an Laien adressierte Veröffentlichungen aufbereitet werden, um das kommunikative Gedächtnis an die lange staatsozialistische Epoche zu sichern und so den beiden nationalen Erinnerungskulturen zu dienen, zugleich aber auch im Wege der transnationalen Zusammenarbeit die europäische Dimension der biographischen Erfahrungen des Staatsozialismus und seiner prägenden kollektiv-historischen Ereigniskonstellationen deutlich zu machen.
In der staatssozialistischen Gesellschaftsformation war die Beziehung zwischen der biographischen Identitätsentwicklung einerseits und der Gestaltung der kollektiven Sphäre (im Sinne von staatlich angebotenem mentalem Orientierungsraum und institutionellen Arrangements und Orientierungsfolien für kollektive Identitätsentwicklung) andererseits eine grundsätzlich andere als in der nachfolgenden demokratisch-kapitalistischen Gesellschaftsformation. Das zeigte sich insbesondere in den elementaren Schematisierungen, die den alltäglichen und biographischen Orientierungshorizont und die sozialen Beziehungsgrundlagen in der DDR prägten. Diese Orientierungen waren gerade deshalb so wirksam, weil sie im Gegensatz zu bewussten und komplexen Ideologiegebäuden nur elementar-halbbewusst waren und nahezu unmerklich die tagtäglichen Alltagsorientierungen prägten (etwa entsprechend den „primitiven Klassifikationen“ bei Emile Durkheim und Marcel Mauss: „Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen“ 1901/ 1902. In: Emile Durkheim: Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, hrsgg. von Hans Joas, Frankfurt. Suhrkamp 1993, S. 169-256; vgl. insbesondere die eingehende empirische und analytisch-konzeptionelle Ausarbeitung der elementaren Schematisierungen in Monika Müllers empirisch-biographieanalytischer Studie: Von der Fürsorge in die soziale Arbeit. Fallstudien zur Berufsbiographie und zu den Orientierungskernen des beruflichen Handelns in zwei Gesellschaftsformationen. Opladen: Barbara Budrich 2006).
Innerhalb der (zumindest ostdeutschen[1]) staatssozialistischen Gesellschaftsformation wurde - entsprechend - „alltags-politisch“, d. h. auf der Ebene der alltäglichen Orientierungen in Gestalt passender elementarer Schematisierungen, erstens ausgegangen von der prästabilierten Harmonie zwischen der biographisch-individuellen Sphäre einerseits und der kollektiven Sphäre mit deren moralischen Erwartungen und Verpflichtungen andererseits. Abweichungen von jenen moralischen Erwartungen und Verpflichtungen, die in bestimmten Lebensphasen und Lebenssituationen - nicht nur in der Adoleszenz - mit innerer Notwendigkeit auftreten, wurden in der staatssozialistischen Gesellschaftsformation als gefährlich abweichend angesehen und konnten nur in einer verdeckten bzw. abgeschirmten sozioinstitutionellen Nische koexistieren und sich entfalten (wie etwa in den Institutionen der beiden Kirchen), oder sie wurden als bedrohliches individuelles oder - noch schlimmer - kollektives Fremdes verfolgt und unterdrückt. Ähnlich steht es zweitens mit der elementaren Schematisierung des Familialismus, der das gesamte Alltagsleben der DDR vertraut und heimelig zu machen und mit angeblich besonders fürsorglichen Sozialbeziehungen zu durchziehen suchte. Auch diesbezüglich war es für Individuen und Gruppen, die sich dieser elementaren und „weichen“ Ordnungsstiftungs- und überwachenden Beobachtungsvorkehrung entziehen wollten, sehr schwierig, ein einigermaßen krisenfreies Alltagsleben zu führen; sie liefen immer wieder Gefahr, als abweichend etikettiert und einer harschen sozialen Kontrolle unterzogen zu werden. Als drittes Phänomen von elementarer Schematisierung soll die vereinfachende Homogenitätsvorstellung des zu ordnenden und zu kontrollierenden großen „Gesellschaftskollektivs“ benannt werden - eine Homogenitätsvorstellung, die dem faktischen Zustand der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Kultur in Volkspolen und in der DDR keineswegs entsprach: was die sozialen Schichtungsphänomene, die ethnisch- bzw. lokal-kulturellen Unterschiede in verschiedenes Landesteilen oder auch die sehr unterschiedlichen und teilweise miteinander konfligierenden Transzendenz-Orientierungen (sozialistisch-materialistisch bzw. christlich-spirituell) anbelangte. Auch hier bestand der machtvolle Versuch der politischen Peripherisierung (der dann in Antonina Kloskowskas letztem großen Werk über die nationalen Orientierungen „from the grassrootes“ im Wege des empirischen Nachweises eines multikulturellen, multiethischen und multi-peripheren polnischen mental space - im bewussten Kontrast zum Zentrismus staatssozialistischer homogenitäts-unterstellender Polonitätskonzeptionen - überzeugend ad absurdum geführt worden ist: National Cultures at the Grass-Root Level. Budapest: Central European University Press 1996/2001; originale polnisch-sprachige Ausgabe: Warszawa 1996).
Sowohl die nationalkulturellen als auch die kollektiv-biographischen Voraussetzungen für die Wirkmacht des Staatssozialismus waren in Polen und in der DDR natürlich völlig andere. Hier sei nur ganz kursorisch auf fünf Unterschiede verwiesen:
- die völlig unterschiedliche moralisch-historische Konstellation als Angehörige einer der Haupt-Opfernationen der Naziverbrechen bzw. als Angehörige der zentralen Täternation als Hauptverursacherin dieser Verbrechen im Zweiten Weltkrieg (Letzteres war im kollektiven und biographischen Bewusstsein unter der Orientierungswirksamkeit eines moralischen Belastungs- und Verantwortungsaspekts, den auch alle ideologischen Entlastungsversuche der DDR-Führung, die DDR sei kein Nachfolgestaat des Deutschen Reiches, nicht verschleiern konnten.);
- das Alleingestellt-Sein Volkspolens auf seine materiellen und geistigen Ressourcen vs. die konkurrente, aber verdeckt auch unterstützende Existenz des zweiten deutschen Staates im Westen, der um so vieles prosperierender und (trotz aller Einschränkungen in der Adenauer-Ära) orientierungs-pluralistischer war als die DDR;
- die grundsätzliche Möglichkeit für polnische Bürger, das Herrschaftsgebiet der Polnischen Volksrepublik verlassen zu können (auch wenn das z. T. mit Repressalien durch die polnische Geheimpolizei bei der Passvergabe verbunden sein konnte) vs. die Nahezu-Unmöglichkeit für DDR-Bürger, das Herrschaftsgebiet der DDR zu verlassen;
- die unterschiedliche religiöse Konstellation eines ungebrochen wirksamen Katholizismus in Polen, der die nationale Kultur und die politische Wir-Gemeinschaft über die mehr als hundert Jahre der Nichtstaatlichkeit geschützt, ja bewahrt hatte, vs. ein kultureller Mehrheitsprotestantismus, der aber bereits am Ende des neunzehnten Jahrhunderts an Wirksamkeit seiner kirchlichen Bindung im „Landstrich Luthers“ teilweise erheblich eingebüßt hatte (wenn auch die Mitgliedschaft 1949 bei über 80% noch weit überwiegend war; sie war aber 1989 auf rd. ein Drittel der Bevölkerung abgesunken und liegt heute in Ostdeutschland bei rd. 22%) und der dann jedoch gerade unter den Bedingungen des reglementierten und überwachten Lebens im Staatssozialismus - nach langjähriger Staatsrepressionen bis zum Mauerbau 1961, dann erfolgten staatlichen Entspannungsversuchen und auch teilweisen Koexistenzversuchen seitens des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR - in vorsichtiger diskursiver Abgrenzung von diesem Staatssozialismus eine neue Wirksamkeitsbedingung insbesondere als Diskursarena-Betreiber, aber auch als Transzendenzaufzeiger erhielt; sowie
- die politische Konzeption - und sicherlich auch der relativ weit verbreitete Glaube - Volkspolens von der homogenen Kultur Polens nach dem Zweiten Weltkrieg (im Gegensatz zur selbst-akzeptierten ethnisch-kulturellen Diversität der pluralistischen Vielvölker-Republik Polen-Litauen bis zu den polnischen Teilungen 1772 - 1795 und auch im Gegensatz zur politisch kontrovers diskutierten ethnischen Vielfalt der bürgerlichen Republik Polen in der Zwischenkriegszeit) vs. die Unübersehbarkeit der religiösen bzw. politisch quasi-religiösen und regionalkulturell-dialektalen Vielfalt bzw. „Diversifiziertheit“ der DDR-Gesellschaft.
Gerade der Tatbestand der erheblich unterschiedlichen national-historischen Prägebedingungen macht den bi-nationalen Vergleich bezüglich der biographischen Auswirkungen des Staatssozialismus auf die Menschen seines Herrschaftsbereichs aber besonders reizvoll. Auch wird gerade so die tiefergehende gemeinsame, wahrscheinlich sogar universale, auf jeden Fall aber wirkmächtige, Orientierungs- und Gestaltungslogik des Staatssozialismus als zentrale politisch-gesellschaftliche Ordnungsstruktur für die Lebensführung und Identitätsentwicklung der betroffenen Menschen kontrastiv analysierbar.
Deutscher Kontakt: Anja Schroeder-Wildhagen []; polnischer Kontakt: Katarzyna Waniek [k.m.waniek@googlemail.com] und Piotr Filipkowski [p.filipkowski@carta.org.pl]
[1] Ob das in der Volksrepublik Polen ähnlich war, das müsste in den in Polen zu erstellenden autobiographischen Interviews noch genauer analytisch geprüft und aus ihnen detailliert herausgearbeitet werden. Es gibt aber aus dem früheren EU-Leonardo-Beratungs- und Forschungsprojekt INVITE („Invite. New Ways of Biographical Counselling in Vocational Rehabilitative Training“) über biographische Beratung in Rehabilitationssituationen, das unter Peter Straus‘ und Fritz Schützes Konsortialführung in fünf europäischen Ländern - so auch in Polen durch Kollegen in Lodz - durchgeführt worden war, um 2003 bis 2005 erhobene Interviews, die die Wirksamkeit genau dieser elementaren Schematisierung in der polnischen „realsozialistischen“ Gesellschaftsformation nahelegen. (Vgl. für das INVITE-Projekt: European Studies on Inequalities and Social Cohesion, No.1 and 2 as well as No. 3 and 4 of Vol. 2008, hrsgg. von Dr. Agnieszka Golzýnska-Grondas, Lodz University Press 2009) - Polnische autobiographisch-narrative Interviews aus den Achtziger Jahren während der Kriegsrechts-Zeit, welche die Kollegen Marek Czyzewski, Kaja Kazmierska, Andrzej Piotrowski, Alicja Rokuszewskaja-Pawelek und andere in Lodz damals durchgeführt hatten, weisen auf ein irritiertes Bewusstwerden „realsozialistischer“ täuschender elementarer Schematisierungen bei den Informanten und die biographische Abwehrarbeit gegen diese hin (z. B. gegen die politisch-gesellschaftlich verordnete Unwichtigkeit der symbolischen Wirksamkeit „echten Geldes“, das die biographische Wichtigkeit des eigenen Arbeitsengagements hätte widerspiegeln können; der Volks-Zloty, für den man sich wenig kaufen konnte, schien für viele Polen diese biographische Symbolisierungsaufgabe nicht zu erfüllen).