Die Wechselwirkungen zwischen orthodoxer Religion und der Politik im zeitgenössischen Russland
Die Wechselwirkungen zwischen orthodoxer Religion und der Politik im zeitgenössischen Russland
Seit den 1980er Jahren ist eine Auflösung der sowjetischen Herrschaftsstrukturen zu beobachten, die 1991 mit der Auflösung der Sowjetunion einen vorläufigen Höhepunkt fand. Von vielen Beobachtern wurden deshalb die letzten Jahre der Sowjetunion und der russische Staat in den Jahren der Präsidentschaft von Boris Jelzin als äußerst schwach charakterisiert. Dies wird vor allem am Verlust des Supermachtstatus nach außen und dem Erstarken einer Wirtschaftselite (Oligarchen) im Inneren festgemacht. Mit der Übernahme der Präsidentschaft durch Wladimir Putin (1999) waren aber zunehmend Festigungstendenzen zu erkennen, die auch durch die Schaffung von neuen Herrschaftsstrukturen ergänzt wurden. In der letzten Zeit sind jedoch vermehrt Großdemonstrationen, offene Vorwürfe des Wahlbetrugs und Achtungserfolge bei lokalen Wahlen zu beobachten, welche die Unumstößlichkeit der bestehenden Ordnung wieder in Frage stellen.
Im Rückgriff auf die Terminologie Max Webers liegt der Fokus im Projekt auf dem Wechsel zwischen losen Machtstrukturen und festeren Herrschaftsstrukturen, die in ihrer Prozesshaftigkeit untersucht werden. Dabei wird jedoch ein einseitiger Fokus auf institutionalisierte Herrschaft vermieden und Bezug zu Traditionen in der Politikethnologie hergestellt. Ein entscheidender Faktor bei der Transformation von Macht und Herrschaft wird in der Religion gesehen, die sowohl eine legitimierende als auch eine delegitimierende Wirkung haben kann. Aus diesem Grund sollen im Projekt die Wechselwirkungen zwischen orthodoxer Religion und Politik im zeitgenössischen Russland erforscht. Dabei wird die lokale Ebene aber nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit regionalen, nationalen und globalen Entwicklungen untersucht. Konkrete Fragestellung ist nach dem politischen Wandel und der Rolle der orthodoxen Religion beim Legitimitätsverlust des Sozialismus in den 1980er Jahren. Ein weiteres Anliegen des Projektes ist die Untersuchung des Einflusses der orthodoxen Religion auf den Konsolidierungsprozess während der Präsidentschaft Wladimir Putins. Lassen sich verschiedene Phasen der Wechselwirkung zwischen Religion und Politik unterscheiden und an welche Bedingungen waren diese geknüpft? Ferner soll im Rahmen des Projektes erforscht werden, wie sich die Vorstellungen und Interpretationen der verschiedenen Gruppen unterscheiden und wie die Ansprüche legitimiert werden. Dabei ist auch von Belang, ob unter den Gläubigen gegenläufige Tendenzen existieren, von welchen Gruppen sie getragen werden und auf welche Vorbilder sich dabei berufen wird.
Diese Fragen und Themenkomplexe sollen im Rahmen einer ethnologischen Feldforschung empirisch untersucht werden. Dafür wird die Methodik der teilnehmenden Beobachtung gewählt, die um qualitative semi-strukturierte Interviews ergänzt wird. Mit diesem Vorgehen kann dem Prozesscharakter der Transformation von Macht Rechnung getragen werden, da aktuelle Beobachtungen durch subjektive Darstellungen und Erinnerungen ergänzt werden können.
Dieses Projekt wird von der DFG gefördert für den Zeitraum 2013-2016.
Kontakt: Dr. Tobias Köllner, GB40-2011,
The Interrelations between Orthodox Religion and the Sphere of Politics in Contemporary Russia
Since the 1980s a diminishing legitimacy of socialist institutions became obvious which led to a loss of power of the state and reached its climax with the demise of the Soviet Union in 1991. Many Russians and external experts characterized the last years of the Soviet Union and the Russian state under the presidency of Boris Yeltsin as weak. This changed when President Vladimir Putin came to power in 1999. From then on an empowerment of the federal state and the presidential administration became visible that was accompanied by the establishment of new institutions of power. However, this changed in the aftermath of the elections in late 2011 when massive protest became visible, accusations of fraud and deceit against the presidential party “United Russia” were raised, and candidates from oppositional parties gained unexpected success in local elections.
Drawing on Max Weber’s terminology, this project examines the processes of transformation between loose structures of power (Machtstrukturen) and authority (Herrschaft) in contemporary Russia. Of special interest in this context is the interrelation between orthodox religion and politics. Thus I was interested where and how the spheres of religion and politics influence, reinforce, contradict or complement each other in multiple ways. During the research, the local level will not be analyzed separately but put into the regional, national and global context. Initial questions for the research are: How can we describe the political changes? What is the role of Orthodoxy when socialist institutions lost their legitimacy in the 1980s? Which influence was exerted by orthodox religion during the process of empowerment of Vladimir Putin? Is it possible to distinguish between different periods of interrelation between politics and religion? Which conditions could be found in order to explain transformations of power? What kinds of interpretations do exist among various groups and how do they justify their claims? Is there any opposition against the state among religious people visible? Which groups could be named and what kind of exemplars could be given?
In order to answer these questions anthropological fieldwork was chosen as the main method in order to collect empirical data. This includes, on the one hand, participant observation and, on the other, semi-structured interviews and talks. This methodology allows to show the processual character of the transformation of power and to incorporate a micro-historical perspective from the remembrance of the interlocutors.
The project is financey by the German Reserach Council (DFG) for the period 2013-2016
Contact: Dr. Tobias Köllner, GB40-2011,